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Pinneberg und Lämmchen

Der große Arbeitslosenroman des Hans Fallada

Vor 75 Jahren erschien im Ernst Rowohlt Verlag ein Roman, mit dem sich der Trinker, Ex-Häftling, Morphinist und Frauenheld Hans Fallada in die erste Reihe der deutschen Autoren schrieb: der Arbeitslosenroman „Kleiner Mann – was nun“. Die Geschichte des Buchhalters Johannes Pinneberg, seiner Freundin „Lämmchen“ und dem gemeinsamen Kind „Murkel“ kam im düstersten Jahr der Weltwirtschaftskrise heraus und war ein sensationeller Erfolg. Schon im ersten Jahr verkaufte Rowohlt über 30.000 Exemplaren.

Der Roman erzählt eine kleine Katastrophe inmitten einer großen. Im Februar 1932 waren mehr als sechs Millionen Menschen bei den Arbeitsämtern gemeldet. Weitere anderthalb Millionen hatten die Suche aufgegeben. Jeder fünfte Beschäftigte arbeitete zeitweilig kurz. Die Sicherheitssysteme kollabierten. Wer zum Arbeitslosenversicherungsunterstützungsempfänger abstieg, wie er damals hieß, hatte Anrecht auf 26 Wochen Hilfe. Danach wurde er an die Krisenfürsorge, am Ende an die Wohlfahrt weitergereicht. Aber die Unterstützung konnte den Lebensunterhalt nicht decken. Ein Ehepaar mit drei Kindern lebte von etwa 100 Mark im Monat. Ein Arbeitsloser musste sich mit weniger als der Hälfte bescheiden. Nach der Reichsstatistik lagen aber allein die monatlichen Kosten einer fünfköpfigen Familie für Ernährung bei 90 Mark. Wenn sie auf Luxusgüter wie Butter, Bohnenkaffee, Fleisch am Wochenende, Käse, Eier und Vollmilch verzichtete, konnte sie mit knapp 50 Mark auskommen, hatte aber nicht einmal die Miete gezahlt. Das Elend war allgegenwärtig. Täglich berichteten der „Vorwärts“, die „Rote Fahne“ oder die Blätter der Ullstein-Brüder vom ungeheuren Elend: „Im Haus Bergstraße 8, Quergebäude, zwei Treppen, hat die 35jährige Wohlfahrtsempfängerin Klara Engwicht ihre drei Kinder im Alter von zwei, fünf und sechs Jahren getötet und sich dann selbst erhängt... Die Frau befand sich im höchsten Stadium einer neuen Schwangerschaft... Seit Monaten lebt die Familie von Margarinestullen und Milchkartoffeln mit Backobst. Hinzu kommt, die Frau war seit drei Monaten die Miete schuldig und sollte exmittiert werden.“ Als Fallada im November 1931 den ersten Teil seines neuen Buches beim Verlag in der Passauer Straße einreichte, waren gerade noch ein Drittel aller Arbeiter vollbeschäftigt.

Der Autor Hans Fallada wusste, worüber er schrieb. Denn Arbeitslosigkeit war eins der Probleme, mit denen er sich die letzten zwei Jahrzehnte herumgeschlagen hatte. Schon seine Jugend war von Katastrophen überschattet. Seine Eltern schickten Rudolf Ditzen, wie er mit bürgerlichem Namen hieß, 1911 auf eine Schule in die thüringischen Residenz Rudolstadt, in der noch immer ein Fürst sein Miniaturreich regierte. Während eines als Duells ausgegebenen Doppelselbstmordes starb sein Mitschüler und Freund Hanns Dietrich von Necker. Ditzen wurde schwer verletzt, im Prozess wegen „ geistiger Krankheit“ vom Vorwurf des Mordes freigesprochen und in die sächsische Nervenheilanstalt Tannenfeld eingewiesen. Nach seiner Entlassung im Frühsommer trieb es ihn wurzellos durchs Land: er arbeitete als Rechnungsführer auf einem Gut in Hinterpommern, war für kurze Zeit Assistent in der Landwirtschaftskammer Stettin und „wissenschaftlicher Hilfsarbeiter“ in der Kartoffelanbaugesellschaft Berlin. Dann rutschte der heftige Trinker nach einer Morphiumbehandlung wegen seiner Magengeschwüre tief in die Sucht. Sein Drogenkonsum zwang ihn zu einer Rauschgiftentziehungskur in der Heilanstalt Carolsfeld bei Halle und einer weiteren Entziehungskur in Sachsen.

1920 erschien unter dem Pseudonym Hans Fallada ein erster, expressionistischer, Roman: „Der junge Goedeschal“. Das Pseudonym war der Märchenwelt entlehnt, dem „Hans im Glück“ und der „Gänsemagd“, wo der treue Schimmel Fallada immer für Gerechtigkeit sorgt. Es hatte mit dem Mann wenig zu tun, der wieder auf Wanderschaft ging. Er lebte auf einem Rittergut in Westpreußen, dann auf Gütern in Mecklenburg und Pommern. Ende 1922 geriet er wieder an die Justiz, weil er auf dem Schwarzmarkt zur Finanzierung seiner nicht geheilten Sucht Getreide verschoben hatte und saß dann wegen Unterschlagung für einige Monate im Gefängnis von Greifswald. Im Sommer 1925 fand er neue Arbeit als Rechnungsführer auf einem Gut in Schleswig-Holstein, schrieb an einem neuen Roman, verbrauchte seine schmalen Einkünfte für Alkohol und Zigaretten, Morphium und Kokain. Es war nur eine Frage der Zeit, bis er ihm anvertrautes Geld unterschlagen würde. Diesmal zeigte der Richter kein Verständnis. 1926 verurteilte er Fallada in Neumünster zu zweieinhalb Jahren Haft.

Als er 1928 entlassen wurde und nach Hamburg ging, trat er in einen Abstinenzlerverein und in die SPD ein – er wollte endlich zur bürgerlichen Gesellschaft zählen. Er lernte Hans Issel kennen und über ihn Suse Issel, eine Lageristin in einem Putzmachergeschäft. Sie war das Vorbild für das „Lämmchen“ Emma, das mit bewundernswertem Mut ihre kleine Familie vor dem Untergang bewahrt. Drei Jahre nach ihrer Hochzeit erschien „Kleiner Mann - was nun?“. Binnen kurzer Zeit wurde der Roman in mehr als 20 Sprachen übersetzt.
Hans Fallada erzählt in seinem Roman das Schicksal einer jungen Familie im Deutschland während der Weltwirtschaftskrise. Johannes Pinneberg und Emma Mörschel erwarten ihr erstes Kind. Als Pinneberg seine Stelle als Buchhalter verliert, wendet sich sein „Lämmchen“ hilfesuchend an ihre Schwiegermutter. Sie ziehen aus der kleinen Stadt ins große Berlin. Mia Pinneberg betreibt ein ominöses Eheanbahnungsinstitut, nutzt „Lämmchen“ als Hausmädchen aus und ist mit einem Schieber liiert. Der Personalchef im Warenhaus Mandel, der diesem Jachmann verpflichtet ist, stellt Pinneberg als Verkäufer ein. Als Mias eigentliche Erwerbsquelle bekannt wird, zieht das junge Paar empört aus und Lämmchen bringt in der neuen Wohnung ihr Kind zur Welt: den „Murkel.“ Pinneberg muss währenddessen im Schatten der Krise für den bisherigen Lohn weit höhere Quoten erzielen. Diesem Druck hält er nicht lange stand. Eine Zeit hilft ihm sein Kollege Heilbutt, indem er eigene Verkäufe auf Pinneberg überschreibt. Doch dann wird der begeisterte Nudist fristlos entlassen, weil sein Aktfoto auf der Titelseite eines Magazins erscheint. Ein Jahr später wohnen die beiden inoffiziell in der Laube von Heilbutt am Rande Berlins. Pinneberg ist noch immer arbeitslos und Lämmchen verdient durch Näharbeiten etwas Geld. Von Zeit zu Zeit hilft ihnen Heilbutt, der jetzt ein florierendes Geschäft mit Aktfotos betreibt. Eines Tages gerät Pinneberg in eine Demonstration und wird von einem Polizisten verprügelt. „Versunken und erledigt“ fragt er sich, wie es weitergehen soll: „Kleiner Mann – was nun?“ Helfen wird ihm wie immer Lämmchen mit ihrem unerschütterlichen Optimismus. Irgendwie wird es schon weitergehen. Der letzte Satz des Buches lautet denn auch: „Und dann gehen sie beide ins Haus, in dem der Murkel schläft.“
Fallada findet für seinen Roman einen ganz eigenen Ton zwischen Realismus und Märchen. Er klagt über die Situation, aber er greift niemanden konkret an. Er erzählt dunkle Geschichten, aber er glaubt an die Erlösung durch Liebe. Er kritisiert das System, aber nicht als Ideologe, sondern aus „Lämmchens schlichtem Blickwinkel: „Sie sind noch jung, sie lieben sich noch, ach vielleicht lieben sie sich noch viel mehr, sie haben sich aneinander gewöhnt – aber es ist dunkel, überhaupt, darf unsereins lachen, in solch einer Welt mit sanierten Wirtschaftsführern, die tausend Fehler gemacht haben, und kleinen entwürdigten, zertretenen Leuten, die stets ihr Bestes taten? Ein klein bisschen gerechter könnte es gerne zugehen, denkt Lämmchen.“
Solche Gedanken über anonyme Mächte, gierige Manager und die Unzulänglichkeit des Systems werden heute wieder formuliert – Fallada schrieb ein Kommentar zur Globalisierung während der Weltwirtschaftskrise vor einem Dreivierteljahrhundert. Die Kritiker waren begeistert. Carl Zuckmayer schrieb in der „Vossischen Zeitung“: „Ich kenne den Fallada nicht, wohl aber diesen Pinneberg, das Lämmchen, Herrn Murkel natürlich, dann auch Frau Mia und den Jachmann. Herrgott Jachmann, wie oft habe ich Sie in der kleinen Bar an der Ecke Augsburger getroffen! Diese Leute wohnen gleich nebenan, man kann ihre Schatten abends auf den Gardinen sehen, sie sind im ganzen Viertel gut bekannt.“
Kleiner Mann – was nun? traf einen Nerv auch bei denen, die noch in Arbeit standen. Er rührte an die Angst der Mittelschicht, die sich noch halten konnte, aber bangte und in Pinnebergs Schicksal eine mögliche Zukunft sah. Fallada hatte nicht nur einen Roman über den sozialen Abstieg geschrieben, sondern auch eine Geschichte über die Angst vor der Deklassierung, über die Ausgeschlossenheit und über das Gefühl des persönlichen Scheiterns. Und diese Befürchtung war ja keine Einbildung. Die weltweite, nicht mehr regional begrenzte Arbeitslosigkeit war für den Mittelstand nach der Inflation von 1923 die zweite traumatische Erfahrung binnen weniger Jahre. Der Weg vom bürgerlichen Leben ins Abseits war sehr kurz geworden. Das ist heute wieder eine nur zu bekannte Erfahrung.

Die Katastrophe in Falladas Roman ist nicht nur der Mangel an Geld, sondern das Fehlen der Hoffnung, nicht nur die kalte Wohnung im Winter 1931/32, als der Autor über seinem Manuskript saß, sondern auch der bohrende Selbstzweifel. Fallada Lösung für das Problem war nicht der politische Kampf, sondern die Liebe: Pinnebergs „Lämmchen“ ist von einer legendären psychischen Robustheit. Lämmchen ist ein wirkliches „Aschenputtel“. Sie lebt im Armutsalltag, ohne Mut und Zuversicht zu verlieren. Mit ihrer Liebe in schwerer Zeit bewahrt sie ihren arbeitslosen Mann vor Verbitterung und Vereinsamung. Hinter der ärmlichen Erscheinung der Frau des kleinen Mannes erkennt der Leser im Märchen die Schönheit und Weitherzigkeit einer Prinzessin.

Fallada selbst hat seine Frau Suse nur für eine Zeit seine Märchenkönigin gefunden. Sie trennten sich und Fallada heiratete ein zweites Mal. Er schrieb im Nationalsozialismus weiter große Zeitromane: „Wer einmal aus dem Blechnapf frißt“ oder „Wolf unter Wölfen“, dann wieder Harmlosigkeiten wie „Altes Herz geht auf die Reise“ oder „Hoppelpoppel, wo bist du?“. Dieses Hin- und Hergerissensein war typisch für Hans Fallada, der nicht nur an der Zeit litt, sondern vor allem unter seinen Dämonen. Wieder verfiel er dem Alkohol und wurde 1944 in die Trinkerheilanstalt Strelitz eingewiesen.

Johannes R. Becher holte den schwerkranken Schriftsteller nach Berlin. Am 5. Februar 1947 starb er. Sein letzter großer Roman über zwei einsame Alte, die ihren Sohn im Krieg verlieren und sich mit ihren bescheidensten Mitteln gegen Hitler zur Wehr setzen, trägt den Titel: „Jeder stirbt für sich allein.“ Gerade wird er in Amerika als der beste aller deutschen antifaschistischen Romane gefeiert.

 

Hans Falladas Antikriegsroman “Jeder stirbt für sich allein” hat 2010 die angelsächsischen Bestsellerlisten erobert. Er hat noch einige andere herausragende Romane geschrieben. Sie sind in ihrer realistischen Erzählweise vielleicht nicht mehr zeitgemäß – aber von einer tiefen inneren Wahrheit.