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 Artikel

„Wir wollen mit ihnen
Musik zum Leben erwecken“

Die Tutoren der Staatskapelle
beim West Eastern Divan Orchestra

Matthias Glander erinnert sich genau, wie Daniel Barenboim auf ihn zukam, um ihn für ein neues Projekt zu begeistern. Barenboim sagte, so erinnert sich der Klarinettist, es gäbe da ein Projekt in Weimar, mit Musikern aus Israel und den arabischen Staaten. Er habe allerdings keine Ahnung, was man erreichen könne und wo das hinführen werde. Heute ist die Entwicklung bekannt: Gerade wurde das West-Eastern Divan Orchestra mit dem renommierten „Echo“ ausgezeichnet, dem begehrtesten deutschen Musikpreis. Und Mitglieder der Staatskapelle sind den langen Weg des Orchesters über all die Jahre mitgegangen. Ein Werkstattbericht.

Matthias Glander nimmt seit 1999 an den Workshops des West Eastern Divan teil, der Solo-Bratschist Felix Schwartz folgte ein Jahr später. Seitdem waren beide in jedem Jahr dabei: in Weimar, Chicago, Sevilla und jetzt in Salzburg. Mittlerweile fahren gleich ein Dutzend Musiker der Staatskapelle zum Workshop des jungen Orchesters. Drei Wochen jeden Sommer: Musikerart, den Urlaub zu verbringen.

Vor dem ersten Workshop gab es keinen Plan. Vielleicht würde man Kammermusik machen oder ein Kammerorchester bilden, vielleicht würden zwanzig Musiker kommen, vielleicht dreißig, niemand wusste es genau. Und dann hatten sich plötzlich achtzig Musiker und Musikerinnen angemeldet. Ein komplettes Orchester. Im Jahr zuvor hatten die Goetheinstitute recherchiert, wo es Akademien und Konservatorien in den arabischen Ländern gab; die Journalistin und Projektmanagerin, Karin Davison und Sebastian Weigle, der damalige Staatskapellmeister, reisten 1998/99 durch Syrien, den Libanon, Jordanien und Israel und hörten sich junge Musiker an. Seitdem ist viel geschehen. Einige der jungen Musiker kennen sich jetzt seit Jahren, das spielerische Niveau ist enorm gestiegen und mittlerweile hat jede Instrumentengruppe ihren eigenen Tutor. Zwei Konstanten ziehen sich nach Meinung von Felix Schwartz dennoch durch alle Workshops und Tourneen: „Die immer wieder neue menschliche Neugier aufeinander. Und das sehr unterschiedliche musikalische Niveau der jungen Leute.“

Im ersten Jahr waren die Teilnehmer im Musikgymnasiums Belvedere untergebracht. Als die Tutoren eintrafen, spielten die Jugendlichen Fußball und Tischtennis, das Camp wirkte wie eine Jugendfreizeit. Aber mit Beginn der Proben wich die Lässigkeit einer großen Konzentration. Barenboim arbeitete mit ihnen nicht anders als mit den Wiener oder Berliner Philharmonikern – acht, neun Stunden am Tag, was die Jungen und Mädchen absolut nicht gewöhnt waren. Damals – und in jedem Jahr wieder – klagten einige über Sehnenschmerzen und wunderten sich, dass sie plötzlich als Musiker ernst genommen wurden.

Die israelische Oboistin Meirav Kadichevski nimmt seit 2003 an den Workshops des Divan teil. Auch sie ist gecastet worden – sogar von Daniel Barenboim selbst. Beim ersten Mal ist sie durchgefallen. Beim zweiten Anlauf auch. Erst nach dem dritten Vorspiel wurde sie eingeladen. „Das ist normal“, sagt sie und lächelt, „man versucht sehr viel als Musikerin, und meistens klappt es nicht.“ Am Ende ging es aber eben doch.

Im Divan spielen einige absolute Spitzenleute und andere, denen die Tutoren im Einzelunterricht das musikalische Einmaleins beibringen – was so weit geht, mit ihnen an der Körperhaltung zu arbeiten oder zu überlegen, wie man den Klang ihrer oft nicht sehr guten Instrumente verbessern könnte. Einzelunterricht, Gruppenunterricht, die Arbeit mit Sektionen oder auch zwei Pulten ist Teil des Probengeflechtes, das die Tutoren der Staatskapelle zusätzlich zur Arbeit mit Daniel Barenboim organisieren. Und nach der ersten Tutti-Probe wird in Einzel- und Gruppenunterricht nachgefeilt. „Wir sind wirklich hartnäckig“, sagt Matthias Glander. „Wir wollen mit ihnen die Musik zum Leben erwecken.“

Auch in Kammerensembles gibt es intensive Kontakte zwischen Schülern und Tutoren. Am Anfang stand der Versuch, mit allen Schülern in Kammerensembles zu spielen. Aber das war nicht zu realisieren. Weder hatten alle Musiker das nötige Niveau, noch reichte die Zeit. So werden heute „kleine, aber feine“ Ensembles zusammengestellt. Diesmal wird Stravinskys „Geschichte vom Soldaten“ eingeprobt. Wie hoch der Standard heute ist, bezeugen Gerard Depardieu als Sprecher und Patrice Chéreau, der das Stück einrichtet.

Während der Workshops wohnten und wohnen die Mentoren nicht auf dem Campus. „Da würden wir keine Ruhe finden“, sagt Felix Schwartz. „Deswegen mieten wir uns Ferienwohnungen mit unseren Familien oder sind in Hotels untergebracht. Wir kommen von neun bis neun zusammen und feiern auch manchmal gemeinsam. Aber unser Party-Level ist nicht so hoch wie bei den jungen Leuten.“ Felix Schwartz hat viel Erfahrung mit Jugendorchestern. So persönlich und unkonventionell wie mit Schülern aus dem Nahen Osten geht es in Deutschland nicht zu. Zum einen sind die Probenphasen in Deutschland in der Regel auf wenige Tage beschränkt. Und dann ist auch die Distanz zu den Schülern aus dem Divan trotz großen Respekts viel kleiner: „Die sind einfach unendlich dankbar“, sagt Schwartz. „Jeder von ihnen erinnert an einen ausgetrockneten Schwamm, der einfach alles aufsaugt, was um ihn herum ist. Und das ist musikalisch und auch menschlich ein sehr schönes Erlebnis.“ Meirav Kadichevski bestätigt ihn: „Viele Musiker aus dem Nahen Osten haben zuhause einfach keine Gelegenheit, mit so exzellenten Lehrern zu arbeiten.“ Das Lernen beschränkt sich nicht allein auf die Musik. Zwangsläufig durchliefen nicht nur die Schüler, sondern auch die Tutoren einen politischen Klärungsprozess. „Wenn man jetzt über den Palästina-Konflikt etwas hört oder darüber nachdenkt, hat man ja gleich Gesichter vor Augen – und zwar Gesichter von beiden Seiten der Barrikade,“ sagt Felix Schwartz.

Dass vor allem Musiker der Staatskapelle Berlin mit dem West-Eastern Divan Orchestra arbeiten, ist kein Zufall, sondern Teil eines langfristigen Plans: Die Annäherung des Klanges an den der Staatskapelle ist gewollt. Die Arbeit mit dem Divan ist Nachwuchsarbeit, ebenso wie die Orchesterakademie der Staatskapelle, die sich der Aufgabe stellt, Spieltechniken und Klangvorstellungen der Staatskapelle unter authentischen Bedingungen an junge Kollegen weiterzugeben. Meirav Kadichevski ist eine dieser Akademistinnen, die für zwei Jahre regelmäßig mit der Staatskapelle spielen – wie fünf andere Mitglieder des Divan auch, die den Sprung in die Akademie geschafft haben. Für die Israelin passt alles perfekt zusammen: Sie hat in Gregor Witt, einem der Solo-Oboisten der Staatskapelle, ihren Mentor im Divan, der gleichzeitig ihr Professor an der Hochschule für Musik und Theater in Rostock ist.

Im Lauf der Jahre ist dichtes Beziehungsnetz entstanden. Es gibt intensive E-Mail-Kontakt zwischen Tutoren und Mitgliedern des Divan. Jedes Jahr tauchen Workshop-Teilnehmer in der Staatsoper auf, die als Stipendiaten in Berlin oder anderswo leben, regelmäßig besuchen die in Europa studierenden Mitglieder des Divan Konzerte der Staatskapelle in der Philharmonie, einige der ehemaligen Schüler studieren heute bei Musikern der Kapelle, die Professuren in Rostock und in Sevilla angenommen haben, wo die Barenboim-Said-Stiftung ihren Sitz hat. Berufliche Erfolge der Schüler bleiben nicht aus: Ein ägyptischer Bassist und ein israelischer Fagottist spielen heute bei den Berliner Philharmonikern. Ein Ägypter ist Konzertmeister der Cairo Opera, sechs sind beim Damaskus Symphony Orchestra engagiert, ein Pauker ist zum Israel Philharmonic Orchestra gegangen.

In manchen Jahren war die Anspannung während der Workshops groß, am schlimmsten im Sommer 2006, als kurz vor Beginn der Probenphase der Krieg zwischen Israel und dem Libanon ausbrach. Daraufhin verzichteten 13 libanesische und syrische Musiker auf die Teilnahme an der jährlichen Tournee. Trotzdem wurde die Reise ein triumphaler Erfolg. Im Mittelpunkt des Programms stand die Neunte Sinfonie von Ludwig van Beethoven, vorgetragen zusammen mit dem Chor der Staatsoper Unter den Linden und den Solisten Angela Denoke, Waltraud Meier, Burkhard Fritz und René Pape, die jetzt als CD mit dem Echo für die sinfonische Einspielung des Jahres ausgezeichnet worden ist.

Jedes Jahr nehmen neue Musiker an den Workshops teil. Und wieder sind es die Tutoren, die im Vorfeld einen wichtigen Beitrag leisten. Im Jahr 2007 reisten Matthias Glander und der Violinist Axel Wilczok wieder in den Nahen Osten. Nachdem über den großen E-Mail-Verteiler des Divan, die Homepage der Barenboim-Said-Stiftung, die Konservatorien und Musikhochschulen das Vorspielen angekündigt worden war, trafen die Bewerbungen ein: 30 aus dem Libanon, 50 oder 60 aus Syrien, ein Dutzend aus Jordanien, jeweils etwa 30 aus Ägypten und Jerusalem und über 100 aus Tel Aviv, insgesamt fast 300 Bewerbungen für etwa 10-15 Plätze und Wilczok und Glander haben sie alle angehört. Auch die Reise selbst war nicht immer leicht: Glander sollte seine Klarinette bei der Einreise nach Israel röntgen lassen – was er kategorisch ablehnte. Der Streit schien zu eskalieren – bis Glander sein Instrument herausholte und „Schalom alejchem“ zu spielen begann – die Sprache der Musik überwand die Barriere.

Nur weil der Kreis der Mitspieler in jedem Jahr weitgehend identisch bleibt, kann das musikalische Niveau gehalten und verbessert werden. Wie bei den Tutoren gibt es auch Musiker, die von Anfang an dabei sind. Und natürlich will das West-Eastern Divan Orchestra nicht nur ein politisches Statement sein, sondern sich als in den Jahren klanglich gewachsenes Orchester neue Perspektiven eröffnen. Wie soll man sonst die 6. Sinfonie von Tschaikowsky oder wie in diesem Jahr die „Variationen für Orchester“ von Arnold Schönbergeinstudieren? „Es soll eben weiter gehen“, sagt Felix Schwarz. „Wir haben die Erste von Mahler gemacht, die Neunte von Beethoven, die Erste von Brahms. Da ist Schönberg einfach der nächste Schritt“ – Er lacht: „Auch wenn keiner weiß, wie wir dieses Stück in knapp drei Wochen stemmen wollen.“ Aber selbst er als langjähriger Musiker und Lehrer staunt immer wieder, was am Ende der intensiven Arbeit für große Konzerte stehen. Das empfindet auch Meirav Kadichevski so: „Wir werden einfach eins. Der Divan ist in der Summe besser als der einzelne Musiker.“

 Jahrbuch

staatskapelle

Dieser Artikel wurde im Jahrbuch der Staatskapelle Berlin im Herbst 2007 veröffentlicht.