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Der Sklave von Algier
Ein einziger Streit vernichtet im Jahr 1569 den Lebensplan des jungen Dichters Miguel de Cervantes, der später mit „Don Quichotte“ ein Meisterwerk vorlegen wird, das bis heute als einer der größten Romane aller Zeiten gilt. Es geht um einen nichtigen Wirtshauszank, aber sein verletzter Gegner zerrt den bis dahin völlig unbekannten Poeten vor Gericht, das den jungen Hitzkopf zum Verlust der rechten Hand und zehnjähriger Verbannung verurteilt. Um der überaus harten Strafe zu entgehen, flüchtet der 21jährige nach Italien. Er findet durch Beziehungen seiner verarmten adeligen Familie Arbeit als Kammerdiener eines päpstlichen Legaten. Danach dient er als Musketier im spanischen Regiment zu Neapel und kämpft anschließend für die katholische Koalition in der Seeschlacht von Lepanto gegen die Türken, die 240 Schiffe, 30.000 Männer und vor allem den Nimbus ihrer Unbesiegbarkeit verlieren. Mühsam kuriert er seine von einer Kanonenkugel zerschmetterte Hand und die beiden Musketenschüsse in die Brust in Medina aus und zieht dann, obwohl er nicht wirklich gesund ist, an der Seite seines Bruders Rodrigo vor die Festung Tunis, wo muslimische Kaperschiffe immer wieder Schutz finden und der glorreiche Türkenbezwinger Juan d` Austria ein Exempel statuieren und mit Hilfe des Papstes ein Königreich eigener Gnaden gründen will. Erfahrungen mit dem launischen Gang der Welt besitzt Cervantes jetzt zur Genüge. Aber nicht einmal im Traum ahnt er, dass sein Elend gerade erst beginnt.
Am 6. oder 7. September 1575 schifft er sich nach der von seiner Familie hartnäckig betriebenen Begnadigung zusammen mit dem Bruder in Neapel auf der Galeere „Sol“ nach Spanien ein. Er nimmt wenig mit auf den Weg. Die Beförderung zum „Elitesoldaten“ kann ihn jedenfalls kaum für die Verwundungen vor Lepanto, drei Kriegszüge gegen die Türken und insgesamt vier Jahre unter Waffen entschädigen. In der Tasche trägt er aber immerhin ein Empfehlungsschreiben des Feldherren de Austria. Obwohl er mit seiner nutzlos herabhängenden Hand doch nur einer der vielen Invaliden der Türkenkriege ist, glaubt er an seine Chance als Offizier der spanischen Krone. Aber wie immer in seinem Leben kommt alles anders als geplant. Ein Sturm trennt die „Sol“ aus dem Geleit der drei anderen Galeeren. Sie ist eine leichte Beute für den Seeräuber Dali Mami, der das Schiff nah der katalanischen Küste entert. Das heimatliche Festland ist für Cervantes zum Greifen nah. Er wird es für Jahre nicht wiedersehen.
Das Ziel seines Entführers ist Algier. Von Phöniziern gegründet, zeitweilig von Römern, Vandalen und Osmanen regiert, steigt die Stadt nach der Eroberung Granadas 1492 durch die Königreiche Kastilien und Aragon zur Basis muslimischer Korsaren auf. Mit der Festung und dem sicheren Hafen im Rücken, führen sie einen erbitterten Kampf gegen die christlichen Mittelmeermächte und stärken ihre Position, indem sie sich 1518 dem Sultan in Konstantinopel unterwerfen. Formal ist Algier damit eine Provinz des Osmanischen Reiches. Faktisch aber ist die Stadt unabhängig. Und ihre wirtschaftliche Basis ist die Piraterie, die „teils eine Begleiterscheinung des Krieges war, teils ein alteingesessenes Gewerbe“, wie der Cervantes Biograf Jean Canavaggio schreibt. Die Galeeren der Räuber sind schnell, wendig und in bestem Zustand und bringen pro Monat manchmal tausend christliche Sklaven ein, deren Ankunft „die Stadt jedes Mal mit einem Freudenfest“ feiert.
Im heutigen Algier erinnert nicht viel an das alte Piratennest. Die Franzosen haben die Meerseite der Metropole in ein nordafrikanisches Marseilles verwandelt. An der Uferstraße und im europäischen Viertel stehen die Patrizierhäuser mit den typisch südländischen Lammellenfenstern. Der Hafen ist ein moderner Umschlagplatz mit ausladenden Kranen und Containergebirgen. Aber die am Hügel hochsteigende Kasbah ist immer noch ein für Fremde unzugängliches Gewirr von Treppen und Gängen, winzigen Plätzen und zusammengedrängten Häusern. Und auch die große Moschee, die Residenz des Dey und einige Paläste mit kühlenden Springbrunnen in den Innenhöfen prägen schon zu Zeiten der Piraten das Bild der Stadt. Miguel und seine Begleiter gehen den Weg aller Entführten: hinauf zum Sklavenmarkt, wo der Preis für den hochrangigen Gefangenen Cervantes auf 500 Gold-Escudos festgesetzt wird – mehr als der doppelte Preis eines normalen Gefangenen. Schuld ist das Empfehlungsschreiben, denn warum sollte sich der Heerführer der verfluchten Ungläubigen für einen einfachen Soldaten verwenden?
Viele Jahre später wird Cervantes zwei Theaterstücke mit den Titeln „Sklave in Algier“ und „Die Kerker von Algier“ schreiben, in denen er seine Erfahrungen poetisch verarbeitet. Das wichtigste Dokument seiner Gefangenschaft aber ist ein schmaler Ausschnitt seines „Don Qichotte“ – 40 von mehr als 1.200 Seiten des Romans, auf denen der Sklave aus Algier seine Geschichte erzählt: „Ich war eingesperrt in ein Gefängnis, welches die Türken Bagno nennen. ... In diese Bagnos pflegen einige Privatleute aus der Stadt ihre Sklaven zu bringen; besonders solche, die freigekauft werden sollen, denn an diesem Ort sind sie bequem und sicher aufgehoben, bis das Lösegeld eintrifft.“
Cervantes erfährt – und das ist die gute Seite des Empfehlungsschreibens - eine bessere Behandlung als manch anderer Unglückselige. Er ist durch seinen Preis eine Handelsware und kein Arbeitstier wie die meisten der bis zu 25.000 weißen Sklaven in Algier. Deren Leben beschreibt der Romancier Bruno Frank in seinem beeindruckenden Roman über den spanischen Dichter: „Gefangene aus aller christlichen Welt füllten diesen seltsamen Speicher als Ware. Sie zählten nach vielen Tausenden, vom Tage der Einfuhr an waren sie Objekte der Spekulation. Man ersteigerte auf dem Badistan einen kräftigen Mann für fünfzig Dukaten, in Erwartung eines Lösegeldes von dreihundert. Aber bis dahin musste das Kapital sich verzinsen. Der Mann wurde also vermietet, als Tagelöhner oder als Lasttier, und der Käufer bezog dafür drei Dukaten im Monat.“ Es ging den geknechteten Männern allerdings noch schlechter, wenn das Lösegeld ausblieb: “ Man ließ sie als wertloses Material auf den Ruderbänken verkommen.“
Ganz und gar übel aber ergeht es den Sklaven, die sich nicht unter das Joch ihres Herren beugen. Flucht ist das größte Verbrechen in Algier. Ausbruchsversuche sind dennoch an der Tagesordnung – und die Strafen drakonisch: Jeden Tag gibt es Auspeitschungen vor dem Schloss, manchmal 400 Schläge, die einen Mann in blutigen Brei verwandeln. Die Hinrichtungen vor dem West- und Osttor sind beliebte Feierabendvergnügungen für die zahlreichen Zuschauer. Und die Mauerhaken der Festung sind immer reichlich mit Christenköpfen geschmückt. Dass alles sieht Cervantes mit an. Denn die Fußkette bleibt auch ihm nicht erspart und er muss die Nacht im Kerker verbringen. Am Tage aber kann er ungehindert durch die Straßen der Stadt schlendern.
Cervantes wird später wenig über diese Welt erzählen. Zumindest lobt er, der strenge Katholik, ganz ausdrücklich die religiöse Toleranz der Türken im Umgang mit ihren Sklaven: „Überdies – s´ mag seltsam scheinen / muss man sich, bei Gott, ja wundern / dass der Maure, unser Feind, / uns erlaubt, wie ihr da seht / unsern Glauben auszuüben / Und sie, wenn auch im geheimen / lassen uns zur Messe gehen.“ Allerdings sind die Muslime schon aus Eigeninteresse nicht auf die Bekehrung Gefangener aus. Denn nach herrschendem Recht müssten sie den neuen Glaubensbruder freilassen. Cervantes zu bekehren, wäre aber in jedem Fall sinnlos gewesen. Er wankt nie in seinem Glauben und betet täglich zu Gott, dem Allmächtigen. Aber ebenso wie seine Religiosität stärkt ihn sein Freiheitswille: „Wenn bei meinen Plänen... der Erfolg den Absichten nicht entsprach, so verzagte ich darum nicht, sondern ersann und suchte mir andre Hoffnung, um mich aufrechtzuerhalten, wenn sie auch nur schwach und dürftig war.“
Viermal versucht er zu flüchten, viermal verschont ihn sein Herr, der gegenüber geringer gehandelten Gefangenen wenig Gnade zeigt: „Er ließ jeden Tag seinen Mann aufknüpfen, ließ den einen pfählen, dem anderen die Ohren abschneiden.“ Der erste Ausbruch soll über Land nach Oran führen, aber der teuer bezahlte Helfer bringt ihn und seine Kameraden zwar aus Algier heraus, lässt die Flüchtigen aber im Stich, sodass sie ohne Nahrung und Orientierung in die Stadt zurückkehren müssen. Die zweite Flucht soll übers Meer gehen. Die Männer um Cervantes verstecken sich in einer Grotte nah zum Ufer und warten fünf lange Monate, versorgt nur von einem Gärtnersklaven aus Navarra, bis ihre Zuflucht entdeckt wird. Wieder im Kerker, schickt Cervantes einen teuer gekauften Mauren mit einem Brief zum Gouverneur nach Oran. Der Bote wird aufgegriffen, hochnotpeinlich befragt und dann gepfählt – und Cervantes bleibt erneut verschont. Ein letzter Versuch zielt abermals auf eine Flucht über die See, diesmal zusammen mit sechzig Männern, „der Elite der Gefangenen von Algier.“ Aber auch dieser Plan wird verraten.
Dass Cervantes immer wieder ohne allzu harte Strafe davonkommt, immer nur einige Monate im Kerker verschwindet, hängt nicht nur mit dem hohen Preisgeld zusammen. Selbst seine Gegner erkennen und würdigen seinen Mut und seine Integrität, die Tapferkeit, mit der er jeden vereitelten Plan als Anführer auf sich nimmt. Auch dass er als Erstgeborener das Anrecht des Freikaufs an seinen jüngeren Bruder abtritt, trägt ihm viel Achtung ein – und den Vorwurf, mit seinem Herren zu kollaborieren, der ihn sogar in seine Dienste nehmen will. Wie auch immer: Cervantes bleiben nach dem letzten Fluchtversuch die zweitausend (!) Stockschläge erspart, die er eigentlich hatte erleiden sollen – und sicher nicht überlebt hätte.
Während der langen Zeit von Cervantes Gefangenschaft versucht seine Familie immer wieder, ihre Söhne zu befreien. Vermittler in den komplizierten Verhandlungen mit dem König von Algier, in die auch die spanische Krone, der Rat von Kastilien und andere mildtätigen Spender, die viel Geld zum Heil ihrer eigenen sündigen Seele geben, einbezogen sind, ist der noch heute existierende Orden der Trinitarier, der sich aufopferungsvoll um den Freikauf der Kreuzfahrer nach Jerusalem, später um die armen Christenmenschen in Piratenhand kümmert.
Als Cervantes endlich ausgelöst wird, spitzt sich seine Lage noch einmal dramatisch zu. Denn die Amtszeit von Hassan, dem Stellvertreter des Sultans und seit einiger Zeit neuer Besitzer von Cervantes, nähert sich dem Ende und er spielt mit dem Gedanken, den widerborstigen und dennoch geachteten Gefangenen mit nach Konstantinopel zu nehmen. Das Schiff ist schon gerüstet, die Rudersklaven sitzen angekettet in ihren Bänken, als das Geschäft endlich zu einem glücklichen Abschluss kommt. Cervantes ist natürlich unendlich froh, denn „es gibt doch kein größeres Glück auf Erden, als die verlorene Freiheit wiederzugewinnen.“
So segelt Cervantes nach 61 Monaten der Gefangenschaft zurück nach Spanien. Als er am 27. Oktober 1580 die „geliebte und ersehnte Heimat“ erreicht, ist er voller Hoffnung. Und wieder wird er enttäuscht. Denn obwohl er erste literarische Erfolge feiert, muss er sich als königlicher Kommissar zum Aufkauf von Getreide und Öl in Andalusien verdingen. Den Bauern für kleines Geld ihre mühsam erschuftete Ernte abzukaufen, ist wahrlich kein Traumberuf und es wird alles noch schlimmer, als er im Namen der Krone auch noch die von den Bauern geschuldeten Steuern eintreiben muss. Cervantes wird fast fünfzehn Jahre über die kargen Ebenen ziehen – bis er 1597 zu Unrecht wegen vermeintlich nicht abgerechneter Einnahmen für ein halbes Jahr im Gefängnis landet. Hier beginnt er mit der Niederschrift des „Don Quichotte“. Das Buch mit einem Helden, der zur falschen Zeit mit falschen Mitteln für heroische Ideale kämpft, wird sofort ein riesiger Erfolg.
400 Jahre später sitzt der Flüchtling, Soldat, Sklave, Aufkäufer und Steuereintreiber Miguel de Cervantes y Saavedra auf dem Thron im literarischen Olymp. 100 vom Osloer Nobel-Institut ausgewählte Autoren aus 54 Ländern erklären seinen „Don Quichotte“ zum größten Roman aller Zeiten.
Zeitschrift
Dieser Artikel erschien im Frühjahr 2008 in mare