Leseproben
Reisebericht
Zurück in die Zukunft
Über fast fünf Jahrzehnte war die Insel militärisches Sperrgebiet. Niemand durfte sie ohne Genehmigung betreten, kein Bewohner ohne ausdrückliche Erlaubnis verlassen. Russische Soldaten bewachten die Küste. Kein Este sollte auf den Gedanken kommen, mit dem Boot ins nahe Schweden zu fliehen. Heute könnten die Bewohner der Insel leicht übersetzen. Aber sie denken nicht daran. Sie arbeiten lieber an ihrer Zukunft.
Ein halbes Jahrhundert kam kein Tourist nach Saaremaa. Jetzt reisen die Besucher wieder an. Zuerst kamen die Finnen. Dann die Nachbarn aus Lettland. Und jetzt kommen langsam auch die Deutschen. Sie waren vor hundert Jahren schon einmal hier. Zehntausend machten sich jedes Jahr auf die lange Reise mit dem Schiff über die Ostsee. Sie kannten die Insel unter dem Namen Ösel und die Hauptstadt Kuresaare hieß bei ihnen Arensburg, nach der mächtigen Anlage der Ordensritter, die weite Teile Polens und des Baltikums vor über 700 Jahren in Besitz genommen hatten. Das Städtchen war damals ein beliebter Kurort, weil die Anwendungen in den Schlamm-Badeanstalten nicht nur das schlimme Gelenkrheuma linderten, sondern auch bei Kinderlosigkeit Wunder wirkten. Aber dann blieben die Gäste aus, denn Europa taumelte in den Krieg. Es folgten die nicht einmal zwei Jahrzehnte der estnischen Unabhängigkeit, dann zogen die Nationalsozialisten den Kontinent erneut in den Krieg, nach dessen Ende die Russen die kleine Nation und die Insel scheinbar entgültig in Besitz nahmen.
Saaremaa ist die größte Insel Estlands, sie misst 88 km von Nord nach Süd und 90 km von West nach Ost. Damit ist sie dreimal so groß wie Rügen. Im Winter brüllt die Ostsee oft so laut, dass die anrollenden Wellen noch Kilometer weit im Land zu hören sind. Im kurzen Sommer dagegen ist es so ruhig, dass die Luft leise sirrt. Jedes Geräusch hat seine Bedeutung. Ein Zweig bricht, Blätter rauschen, eine Möwe schimpft mit dem Wind. Die Geräusche stehen nebeneinander, die Atmosphäre ist noch nicht von ihnen gesättigt.
Vom Hafen in Kuivastu aus, wo die Fähre nach einer knappen Stunde anlandet, durchqueren Besucher die Vorinsel Muhu und erreichen über einen langen Damm Saaremaa. Wir halten uns nach Nordwesten und fahren in eine der einsamsten Gegenden der sowieso schon einsamen Insel. Sehr bald endet die geteerte Straße. Sie geht über in eine breite Buckelpiste voller Spurrillen, die im Sommer bretthart und staubig, im langen Winter dagegen weiß überfrorene Schneisen durch die baumbewachsene Ebene schlägt. Es ist eine raue Welt, die höchstens drei Monate ein sommermildes Gesicht zeigt: im Mai fällt die Temperatur noch unter den Gefrierpunkt, im September kehrt der Frost schon wieder zurück.
Wir fahren durch Wald, Wald und Wald. Manchmal öffnet sich die grüne Wand und gewährt den Blick auf unbearbeitetes Land. Viele Felder liegen brach; sie gehören zum ehemaligen Kolchoseland mit aufgegebenen Höfen, Stallungen ohne Dach und rostenden Silos, Mietskasernen mit zerborstenen Fenstern und bröselnden Fassaden irgendwo im nirgendwo, verlassen von den russischen Arbeitern, die noch vor anderthalb Jahrzehnten auf zweihundert zu Kollektiven zusammengeschlossenen Höfen arbeiteten. Einmal sehen wir ein Ortschild, aber weder Menschen noch Häuser, dann einen Verhau mit notdürftig befestigten Briefkästen. Einmal steht eine Windmühle nah der Straße. Vor hundert Jahren gab es 800 auf der windigen Insel. Mit ihren steinernen Fundamenten waren sie die Wahrzeichen Saaremaas. Heute sind sie fast alle verschwunden. Ungenutzt und dann zerfallen während der russischen Okkupation.
Die Zeiten waren oft hart auf dieser Insel. Manchmal waren sie mörderisch. Als die Rote Armee im Juni 1940 Saaremaa besetzt, deportieren die Sieger sofort 1.000 Bewohner, viele von ihnen Hofbesitzer, nach Sibirien. Von September 1941 bis Oktober 1944 währt die deutsche Besatzung, die vor dem erneuten Einzug der Sowjetarmee mit einer Massenflucht und der Deportation von etwa 3.000 Esten nach Deutschland endet. Im März 1949 veranlasst die Sowjetregierung weitere Deportationen nach Sibirien. Hunderte Familien verschwinden für immer. Ihr Besitz fällt an die staatlichen Kolchosen.
Endlich kommen wir in ein Dorf mit einer kleinen Kirche, einigen hölzernen Häusern, einer Omnibushaltestelle, einem winzigen Kaufmannsladen, vor dem eine junge Verkäuferin sitzt und auf die wenigen Kunden wartet. Die Kneipe hier in Leisi ist gleichzeitig Restaurant, Post und Touristeninformation. Wir fragen nach einer Pension. Die junge Frau schüttelt den Kopf: Gibt es nicht. Einen Campingplatz? Gibt es auch nicht. Aber einige Rastplätze, an denen man sein Zelt aufstellen darf, die gibt es. Sie zeigt sie uns auf einem kopierten Blatt Papier. Und so fahren wir noch tiefer hinein in den Wald, bis wir eine Einfahrt finden und damit einen schmalen Weg hin zum Meer. Hier steht ein roh gezimmerter Unterstand mit Tisch und Bänken, davor hat jemand eine von Steinen begrenzte Feuerstelle angelegt. Sogar gestapeltes Brennholz finden wir bei den Kiefern und daneben Tannenzapfen und Borken als Zündmaterial. Die graue Ostsee plätschert zehn Meter entfernt an den steinigen Strand, am Horizont sind Himmel und Wasser eins und links von uns ragt eine Landzunge weit hinein in die baltische See. Diese Plätze sind frei zugänglich. Jeder kann sie benutzen. Manchmal hängt an einem Baum ein kleiner Kasten, in dem man ein wenig Geld deponieren kann.
Am nächsten Tag fahren wir mit unseren Fahrrädern herum. Auf einem einsamen Friedhof an der staubigen Straße stehen schlichte Holzkreuze. Der Boden ist, wie fast überall, sandig und voller Steine. Es ist kein reicher Boden, die Bauern müssen ihm Kartoffeln und Gurken und Tomaten abringen. Viele Grabsteine sind siebzig, achtzig Jahre alt, verwittert, oder verrostet, die russischen und deutschen Namen sind oft beinahe unlesbar. Auf einigen Gräbern stehen frische Blumen, obwohl die Verstorbenen schon ein halbes Jahrhundert ausruhen; einfache Holzbänke, von denen die Farbe splittert, warten auf Besucher, die noch immer um ihre Angehörigen trauern. Die Toten werden hier nicht so schnell vergessen.
Wir treffen auf alte Gehöfte, versteckte Siedlungen, riesige Brennholzstapel, die vielleicht nicht für die langen Winter reichen werden, Findlinge und Wacholderbüsche, Kuhweiden und malerische Steinzäune. Es ist ein über Jahrhunderte entwickeltes System, der rauen Natur standzuhalten. Der kleine Wohlstand, der jetzt durch moderne Traktoren, frisch eingedeckte Dächer und erste Satellitenschüsseln auch Saaremaa erreicht, hat an diesem Ineinandergehen von freiem Land und behutsamer Bewirtschaftung bislang wenig geändert. Und die Gehöfte und Siedlungen liegen weit verstreut. Am Wegrand blühen noch immer Orchideen, wir sehen Ringelgänse und Eiderenten und immer wieder fahren wir durch Wälder voller Kiefern, Tannen, Birken und Eichen und liegen mittags unter einem Baum im Moos.
Die lange Zeit der Okkupation zeigt jetzt ihre einzige positive Seite: Die Natur blieb fast unangetastet. Mehr als 80 Prozent der Fläche Saaremaas bedecken Wälder und Wiesen, Moore und Gewässer. Allein auf der kleinen vorgelagerten Insel Vilsandi, wo in jedem Herbst die Kraniche zu ihrer Reise in den Süden aufbrechen, schleppten die Vögel in den letzten 50 Jahren hundert neue Pflanzenarten ein. Sie ziehen auch über den Lahemaa-Nationalpark im Norden mit seinen Mooren, feinen Sandstränden und Küstenstreifen. Einer Legende nach waren die Felsen und winzigen Inselchen an dieser Küste die Wurfgeschosse des estnischen Nationalhelden Suur Töll, mit denen er den Teufel zurück ins Meer gejagt und damit von Estland fern gehalten hat. Das ist ihm im 20. Jahrhundert nicht mehr gelungen, auch wenn die Geschichte jetzt ein versöhnliches Ende zu nehmen scheint: Renovierte Herrenhäuser, während der Okkupation von den Russen genutzt, dienen jetzt als Urlaubsquartiere.
Nicht nur die Schrecken der Okkupation sind überwachsen. An der Ostseite der Kudema-Bucht bei Panga bricht das Land plötzlich ab und stürzt als Steilküste zwanzig Meter in die Tiefe. Bis zum Ende des Nordischen Krieges sollen die Fischer hier auf einer flachen Bank im Meer Kinder geopfert haben, um den Gott des Meeres durch ihre Gabe versöhnlich zu stimmen. Ein weiterer Landstrich, dem man den Schrecken nicht ansieht, ist die dreißig Kilometer ins Meer reichende Halbinsel Sörve im Südosten der Insel. Hier lieferten sich die Rote Armee und deutsche Truppen im Herbst 1944 eine verlustreiche Schlacht, die ganze Dörfer für immer von der Landkarte strich.
Das Zentrum der Insel ist die Hauptstadt Kuresaare. Ihre Bewohner hatten viele Jahrhunderte vom sicheren Fischfang und danach von den deutschen Touristen gelebt. Aber als russisches Kingissepp versank es in Isolation und Agonie und setzt heute, nach dem Preisverfall für Hering und Stör, wieder auf die Touristen. Von den Besatzern ist nichts geblieben außer Plattenbauten in den Außenbezirken. Auch die kyrillischen Beschilderungen sind verschwunden. Doch die Esten zeigen sich geschäftstüchtig. Bald sollen ihnen wieder Schilder den Weg weisen: Die Russen sind schließlich Nachbarn. Wenn sie als Besucher kommen, werden sie freundlich empfangen. 20.000 Menschen leben heute in der Hauptstadt, fast die Hälfte der Inselbevölkerung. Hier sind die meisten Hotels angesiedelt, das puristische Go SPA, das Wellness-Kurhotel, das Lossi im Park vor der Burg, hier bieten die Restaurants für zehn Euro ein Fischmenü an. Sogar ein Kino gibt es und einen wahrhaft riesigen Supermarkt, in dem es an nichts fehlt: nicht an dunklem Brot, nicht an französischem Weichkäse und nicht an italienischem Wein. Dieses gut besuchte Einkaufsparadies ist momentan das eigentliche Zentrum des Ortes und zeigt, wie schnell sich Estland von der Mangelwirtschaft befreit hat.
Der Besitzer eines Cafés weist uns auf einen der besonderen Anziehungspunkte der Insel hin. Knapp 20 km nordöstlich der Hauptstadt schlug vor etwa 2.000 Jahren ein 80 Tonnen schwerer Meteorit einen gewaltigen Krater mit einem Durchmesser von 110 m. Es heißt, der brennende Pfeil, der vom Himmel fiel, sei der Zorn Gottes über eine Geschwisterheirat gewesen, die in einer kleinen Kirche an diesem Ort gefeiert werden sollte. Später wurde dieser Krater von Kaali als Opferstätte genutzt.
Dann fahren wir in Richtung Fährhafen und verlassen diese stille und einsame Insel, die wirklich am Rande von Europa liegt – aber endlich wieder eine Zukunft hat.
Informationen
Eine Homepage über das Reiseland Estland mit vielen Links ist
> gobaltic.de.
Viele Informationen über die Insel sind unter
> saaremaa.ee abrufbar.
Magazin
Der Reisebericht hat das Magazin „abenteuer und reisen“ im Winter 2008 veröffentlicht.