Mein Bruder wohnt in der Nähe von Albi in Midi-Pyrenée, wo ich ihn regelmäßig besuche. Jedes Mal
durchstreife ich die ehemaligen Katharersiedlungen hoch oben auf den Hügeln. Der Bericht über diese Glaubens- und Lebensgemeinschaft erschien in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.
DIE WELT IST DES TEUFELS
Eine Reise in das Land der Katharer
Die Katharer beteten in Grotten und Höhlen. Sie bauten keine Festungen und legten ihren Glauben nicht schriftlich nieder. Dennoch sind sie, fast 800 Jahre nach ihrer Ausrottung auf den Scheiterhaufen der katholischen Inquisition, unvergessen. Meine Reportage über ihre Gemeinschaft ist im Reiseblatt der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschienen.
Die Glaubensgemeinschaft der Katharer hat im ganzen Südwesten Frankreichs gelebt: von Narbonne am Mittelmeer bis zum Wallfahrtsort Lourdes zu Füßen der Pyrenäen und im Norden hoch bis zum Fluss Lot. Ihre blutigen Auseinandersetzungen mit dem Papst, dem französischen König und den Kreuzrittern fanden in Beziere statt, in der wuchtigen Festung Carcassonne, in Toulouse und Mirepoix. Manche Bücher über die Katharer erzählen denn auch vor allem von ihren Gemeinschaften im okzitanischen Süden. Aber auch weiter im Landesinneren verfolgte die Inquisition die Katharer unnachgiebig. So heißen die Katharer in Midi-Pyrenées auch Albigenser, nach der Stadt Albi, in der eine ihrer Gemeinden zum neuen Glauben stand – und diese kleine Reise zu den Katharern beginnt.
Albi war eine starke katholische Stadt. Der Dom beeindruckt bis heute als backsteinerner Ausdruck der Macht und der Größe des Glaubens. Es ist eine gewaltige Kirche, ganz Luthers „feste Burg“ mit sieben Meter dicken Backsteinmauern, über die Kurt Tucholsky nach einem Besuch schrieb: „Ich bin kein weitgereister Mann und kann nicht nachlässig hinwerfen: ‚Das Haus des Dalai Lama in Tibet erinnert mich an der Nordseite an die Peterskirche in Rom.’ Diese Kirche in Albi hat mich an gar nichts erinnert – doch: an eins. An Gott“. Heute ist Albi das Zentrum des Département Tarn, eine Stadt aus rotem Stein, deren Dom noch immer alle anderen Gebäude weit überragt. Gleich nebenan im alten Bischofspalast ist das Toulouse-Lautrec Museum angesiedelt, das über 1.000 Arbeiten des in Albi aufgewachsenen Lautrec besitzt; es ist die weltweit größte Sammlung von Gemälden, Zeichnungen und Plakaten des kleinen Malers.
Nicht weit von Albi entfernt versammelten sich im Juni 1165 in der Burg von Lombers der Erzbischof von Narbonne, Bischöfe und Äbte und sogar eine Schwester des Königs von Frankreich, um mit den abgefallenen Sündern aus Albi zu disputieren. Die Katharer kamen als freie Männer und hatten die Spielregeln des Disputes im Vorfeld ausgehandelt. Schlimmstenfalls drohte ihnen „der Entzug des Wohlwollens.“ Um was ging es bei diesem Disput? Es gibt kein authentisches Protokoll der Sitzung, nur eine Kopie, die im 17. Jahrhundert auftauchte, aber selbst wenn es den Wortlaut nicht wiedergibt, die Fragen an die Katharer und ihren Glauben waren immer dieselben: Wie hielten sie es mit dem Alten Testament? Wie standen sie zum Fegefeuer? Was bedeuteten ihnen die Heiligen Sakramente und die Ehe? Auf all diese Fragen hatten die Katharer sehr eigene Antworten.
Der zentrale religiöse Gedanke der Katharer war die Überzeugung, dass der Herr im Himmel nicht der Schöpfer der Welt sein konnte, denn ein vollkommener Gott hätte nicht eine solch unvollkommene Welt geschaffen. Vielmehr sei sie das Werk eines von Gott gesandten Boten, die Schöpfung eines gefallenen Engels. Dieser einfache Gedanke deckte sich mit der Erfahrung vieler Menschen in jener Zeit: Die Welt ist des Teufels. Und so setzen die Katharer die Erschaffung der Welt mit dem Jüngsten Gericht gleich. Es gab für sie kein Fegefeuer und keine ewige Verdammnis. Das irdische Dasein selbst war ihnen die Höllenstrafe.
Die einfache Botschaft, das die Welt zum Reich des Satans zählt, war für die Kirche ein Affront, denn die arme Seele war damit durch die Androhung des Fegefeuers nicht mehr zu beeindrucken. Das ganze Arsenal von Strafe, Buße, Exkommunikation verlor seine Gewalt. Wie groß diese Macht der ewigen Verdammnis bisher gewesen war, zeigt das Altarbild im Dom zu Albi: Auf 15 mal 20 Metern Fläche haben hier unbekannte Künstler das Jüngste Gericht verewigt. Sie schufen ein riesiges Wandbild, das Hieronymus Bosch gut gefallen hätte, eine Hölle in dunklen Farben mit lodernden Körpern und von finsteren Kreaturen gemarterten Sündern. Die Kirche brauchte diese Furcht, denn sie war ein wichtiger Pfeiler ihrer Macht.
Keine halbe Stunde Autofahrt hinter Albi liegt Cordes. Das Dorf ist hundert Meter hoch auf einen Hügel gebaut, die Häuser schmiegen sich aneinander wie junge Katzen. In der Touristeninformation verkauft eine Studentin den 48seitigen „Walking-Guide“, der die Geschichte der wichtigsten Gebäude der Stadt erzählt, Im schönsten dieser Häuser, der „Maison du Grand Veneur“ lebte um 1350 Raimond de Rabastan, dessen Familie über Generationen dem Glauben der Katharer angehangen haben soll. Es ist leicht, sich vorzustellen, wie in dem Palast die Glaubensbrüder zusammenkamen. Man müsste nur die Straßenbeleuchtung und Ladenschilder entfernen, die heute für den Verkauf von Kunsthandwerk und Entenleberpastete werben, und die Illusion einer mittelalterlichen Straße wäre perfekt.
Als Cordes mit seinen Verteidigungsanlagen entstand, war die Glaubensbrüderschaft schon arg in Bedrängnis geraten. Bereits im Januar 1208 hatte sich Raimond VI., der Graf von Toulouse, der trotz seines katholischen Glaubens die Katharer nicht verfolgte, mit dem päpstlichen Legaten Pierre de Castelnau getroffen, der ihm heftige Vorwürfe wegen seiner laxen Haltung gegenüber den Ketzern machte. Als mächtigster Adeliger Südfrankreichs war es Raimond nicht gewöhnt, gemaßregelt zu werden. Die beiden Männer gingen im Streit auseinander. Was dann geschah, war ein ungeheuerlicher Affront gegen die Autorität des Papstes: auf dem Rückweg „verunglückte“ der Würdenträger tödlich.
Die Reaktion der Kirche war in der Geschichte der Christenheit ohne jedes Beispiel. Der neue Papst Innozenz rief zum Kreuzzug auf. Aber diesmal nicht gegen die Ungläubigen im Morgenland, sondern gegen christliche Brüder in Okzitanien. Es brauchte ein Jahr Vorbereitungszeit, dann walzte sich das Heer unter der Führung von Simon de Montfort nach Süden. Der Ritter nahm Béziers und ließ in einem kaum glaublichen Blutrausch 20.000 Bewohner der Stadt ermorden. Im Sommer 1209 brannte der erste katharische Märtyrer auf dem Scheiterhaufen, im Juni 1210 starben in Minerve 140 Ketzer im Feuer.
Auf den Spuren der Katharer zu reisen heißt, auf seine Vorstellungskraft zu vertrauen. Denn sie haben nur wenige Kultstätten, Burgen oder Festungen hinterlassen. Sie haben auch ihre Überzeugungen nicht in gelehrten Schriften, Traktaten und Büchern festgehalten. Sie haben auch keine großen Kirchen gebaut, sondern ihre Gottesdienste in bescheiden ausgebauten Höhlen, Grotten und schlichten Gebetshäusern abgehalten. Sie sind uns kurioserweise vor allem durch eine Institution in Erinnerung geblieben, die alles daran legte, diese okzitanischen Ketzer auszurotten: Die Heilige Inquisition. Von ihr kennen wir auch die Riten der Katharer, mit denen sie sich den unendlichen Hass der Kirche zuzogen.
Die Katharer, die in Deutschland im Wort Ketzer verewigt sind, verstanden sich als die „Reinen“, die mit dem Schmutz der Welt, vor allem mit Geld, Macht und Sexualität, nichts zu tun haben wollten. Die Grundregeln ihres Glaubens waren das Fastengebot, dass Verbot des Tötens von Tieren – nicht einmal Eier und Butter waren ihnen erlaubt – und die uEnthaltsamkeit. In ihren Erklärungen vor der Inquisition bezeichneten sich die Katharer niemals mit dem Namen, unter dem wie sie heute kennen. Sie selbst nannten sich „gute Christen“, bonshommes.
Ihre Gemeinschaft teilte sich in wenige Eingeweihte und viele Gläubige. Die Eingeweihten nannten sich selbst Parfaits, die Perfekten. Als Priesteranwärter durchliefen sie eine mehrjährige Ausbildung und lernten, auf jeden Genuss zu verzichten, jede tierische Nahrung inklusive Käse und Milch zu verschmähen, keusch und besitzlos zu leben. Die Gläubigen, die Croyants, mussten sich bei ihrer Aufnahme in die Gemeinschaft verpflichten, ihren Parfaits jede erdenkliche Hilfe zukommen zu lassen. Im Gegenzug – und das war der zentrale Ritus im Leben der Katharer – erhielten sie die Zusicherung, dass ein Parfait am Sterbebett die Geisttaufe, die consalamentum aussprechen würde. Durch diesen Ritus wurde der Croyant in die Gemeinschaft der Eingeweihten aufgenommen. Sie reinigte, quasi in letzter Stunde, den Sterbenden von allen Sünden. Was immer er auch auf der Welt getan haben mochte, durch diesen Ritus war er schon zu Lebzeiten erlöst.
In dem kleinen Ort St. Antonin, noch einmal eine halbe Stunde Autofahrt von Cordes entfernt an der Aveyron gelegen, lebte eine kleine Gemeinschaft der Gläubigen im Schatten des Rathauses, dem ältesten in ganz Frankreich. Seit 900 Jahren steht es am Marktplatz, die Gläubigen haben sich in einem der Häuser hier getroffen, vielleicht da, wo heute die steinerne Markthalle steht. Am Wochenende brodelt der Ort mit seinen 2.000 Einwohnern geradezu: der Markt mit seinen Wein- und Fischständen, den leckeren Würsten und dem frischen Ziegenkäse ist einer der bekanntesten in der ganzen Region und auch bei den Touristen - zurecht - ein beliebtes Ziel. Im Rathaus sind es vor allem Engländer und Holländer, die sich die kleine Ausstellung über die Geschichte der Stadt anschauen – die natürlich auch auf die Katharer verweist. Eine Legende erzählt von einem Mann, der nach seiner Einsegnung wieder zu Kräften gekommen war. Da es eine zweite Einsegnung im Glauben der Katharer nicht geben durfte, entschloss er sich zum Selbstmord. Seine Angst, nicht erlöst zu werden, war größer als die Angst vor dem Tod – eine Angst, die viel sagt über die tiefe Gläubigkeit der Menschen im 12. und 13. Jahrhundert.
Der Parfait war – anders als der katholische Priester – kein Mittler zwischen Mensch und Gott und er drohte auch nicht mit den Feuern der Hölle. Im Gegenteil: Er erhob den Sterbenden schon vor dem Tod in den Stand der Gnade. Die Christen hatten es gut in diesem Glauben: Die Parfaits lebten stellvertretend für die armen Sünder das richtige Leben, während die Croyants lieben, trinken und spielen konnten ohne Furcht – und auf dem Sterbebett regelte das consalamentum den Schaden. Aber nicht nur die fehlende Drohung mit dem Fegefeuer, Bequemlichkeit oder das Ritual am Totenbett brachte den Katharern so viel Zulauf. Die Menschen beeindruckte auch die Integrität der Parfaits, die ihren Glauben wirklich lebten, wovon viele katholische Priester weit entfernt waren.
Wenige Kilometer die Aveyron herunter liegt der kleine Ort Penne. Er wirkt wie in der Zeit eingefroren, ein winziger Ort auf einem Bergrücken, über dem eine schiefe Burgruine thront, die schon seit 100 Jahren jeden Moment zusammenzustürzen droht. Noch im letzten Jahr war die Burg frei zugänglich, jetzt versperrt ein Zaun den Aufstieg. Aber bald wird hier ein alter Mann sitzen und gegen ein kleines Eintrittsgeld den Weg freigeben – was sich niemand entgehen lassen sollte, denn von der Ruine aus hat man einen grandiosen Blick über das Tal der Aveyron und die Häuser von Penne, in denen auch eine Gemeinschaft der Katharer gelebt hat. Auch Frauen soll es unter den Parfaits gegeben haben, und eine soll hier in Penne geboren worden sein. Aber sie lebte in einer anderen Welt als die männlichen Priester. Es war ausgeschlossen, dass sie sich gemeinsam mit ihnen in einem Raum aufhielt und eine Berührung war undenkbar. Gemeinsam war den Parfaits eine ausgesprochen negative Einstellung zum Körper, denn in ihrem Glauben gehörte die ewige Seele Gott, der Körper dagegen dem Teufel. Niemand erstand in einem menschlichen Körper auf, sondern als reiner Geist, der gen Himmel flog.
Weil die Welt teuflisch und damit alles der Sünde ist, war es für die Gläubigen gleich sündhaft, die eigene Frau, eine Mätresse oder Konkubine „fleischlich zu erkennen.“ Aber die Parfaits gestalteten ihre Moral im Wissen um die menschliche Natur.. Es war für die Croyants zumindest keine Sünde, das Unvermeidliche zu tun, aber sie sollten die Lust und die Ausschweifung meiden, ihrem guten Ruf bei den Nachbarn zuliebe und aus Furcht vor der weltlichen Justiz – so steht es in den Manuskripten der Inquisition, fleißig gesammelt von Geoffrey d`Ables und von Bischof Jaques Fournier, dem späteren Papst Benedikt XII. Diesen Aufzeichnungen verdanken wir viel. Niemand hat die Katharer und ihr Denken genauer beschrieben.
Aber die Inquisitoren brachten den Katharern nicht nur die Unsterblichkeit, sondern auch den Tod und letztlich den Untergang. Zuerst musste sich Raimond VII. den Kreuzfahrern unterwerfen. Er verpflichtete sich, seine Tochter Johanna mit einem Bruder des französischen Königs zu verheiraten, wodurch das Reich endlich auf die Ländereien im Süden zugreifen konnte. Und dann gingen die „Predigerbrüder“, die sich später Dominikaner nannten, ans Werk. Durch ihre Armutsregel und ihr Keuschheitsgelübde unterschieden sie sich auf den ersten Blick kaum von den Parfaits, weswegen sie den Katharern umso härter nachsetzten.
1242 schlugen die verzweifelten Katharer noch einmal zurück und ermordeten ein Dutzend Inquisitoren. Die Truppen des Königs griffen daraufhin ihre letzte Hochburg Montségur an. Nach einer langen Belagerung fiel die Stadt. Über 200 Parfaits verbrannten auf den Scheiterhaufen ihrer unversöhnlichen katholischen Feinde. Damit war ihre Gemeinschaft zerbrochen, auch wenn die letzten Katharer noch beinahe ein Jahrhundert an ihrem Glauben festhielten. Ihre Gemeinschaft starb aus und ihre Riten blieben nur sehr unvollständig im kollektiven Gedächtnis bewahrt. Die Katharer sind dennoch unvergessen: als Menschen, die sich der Macht nicht beugen wollten, für ihre Überzeugung kämpften und sogar in den Tod gingen.