Ich weiß nicht mehr, in welcher Berliner Tageszeitung dieser Artikel erschienen ist, denn ich habe längst nicht alle Belege gesammelt. Ich erinnere mich aber sehr genau, was für ein phantastisches Erlebnis die beschriebenen Tage waren.

 

 

EINE KÜSTE FÜR UNS ALLEIN

Das südafrikanische De Hoop Nature Reservat

 

Die einzige Bank im Ort ist geschlossen und der Kartenautomat außer Betrieb. Wir fragen einen Passanten nach der nächsten Gelegenheit zum Geldabheben. „Ganz einfach“, sagt er, „da müssen Sie nur die 40 Meilen nach Swellendam fahren. Sie können es nicht verfehlen.“ Südafrika ist eben ein Land langer Wege. Und lang ist auch der Weg zum De Hoop National Reservat. Zumindest, wenn man ihn an europäischen Maßstäben misst.

 

Mit aufgefüllter Reisekasse verlassen wir die Hauptstraße und fahren über eine Piste dem Nationalpark entgegen. Eine unendlich weite Hügellandschaft rollt wie ein Meer vor uns ab. Die Stille singt. Hin und wieder begegnet uns ein Pick-Up, dessen Staubfahne in der Hitze des Vormittags weht. Dann und wann steht eine schattenspendende Akazie in der Einsamkeit der erdfarbenen Felder. Zweimal fahren wir an Straußenzuchten vorbei. Als wir anhalten, laufen uns die riesigen Vögel entgegen. Sie sind neugierig. Wenn ich die Hand hin und her bewege, tanzen die Tiere Ballett.

 

Nach drei Stunden halten wir vor einem Schlagbaum. Daneben steht ein hölzernes Kassenhäus-chen, in dem ein Wärter döst. Wir sind die ersten Gäste des Tages. Viele Besucher kommen nie, denn de Hoop bietet keine spektakuläre Population. Hier gibt es weder Elefanten noch Löwen, keine Giraffen und keine Rhinos. Nur eine beeindruckende Vegetation, Sanddünen bis in die Unendlichkeit und Wale, die im Herbst und Winter aus der Arktis kommen, um hier vor der Küste zu kalben.

 

Im Park stehen Besuchern nur zehn Häuser und ein kleiner Campingplatz mit einem knappen Dutzend Stellplätzen zur Verfügung. Wir haben Glück, denn eines der Cottages ist nicht belegt. Es bietet uns Küche und Schlafzimmer, ein kleines Bad mit einer Dusche und vor dem Eingang einen gemauerten Grillplatz. Der ist obligatorisch, denn in Südafrika ist ein Dinner oder Lunch ohne Fleisch keine Mahlzeit. Als ich um die Ecke in den kleinen Garten schaue, grast dort ein Zebra. Es beachtet mich nicht. Dann gehen wir hinunter zum nahen See und hören den Vögeln zu. Hin und wieder springt ein Fisch. Ein Reiher fliegt vorbei. Eine Ente taucht. Vor uns nur Wasser, Buschwerk und ein hoher Himmel und in uns das Gefühl, an einem ebenso gewöhnli-chen wie besonderen Ort zu sein, einem Ort, der jenseits unserer menschlichen Neugierde seit vielen Jahrtausenden ein unendlich langsames eigenes Leben führt.

 

De Hoop ist vor allem ein Pflanzenpark. Hier kann man aus nächster Nähe bestaunen, was auf der Fahrt mit dem Auto aus der Ferne wie ein Farnteppich aussieht. Je näher man heran kommt, desto gewaltiger wird dieser vermeintliche Farn, der sich als ein Strauchwerk aus hartdornigen, spitzigen Gräsern und Pflanzen entpuppt. Die Südafrikaner nennen diese Vegetation Fynbos, was übersetzt etwa Gebüsch heißt und was – wie so oft, wenn es in Südafrika um die Natur geht – nach unseren Maßstäben leicht untertrieben ist. Denn die Erika und Protea, gewaltige Silber-baumgewächse mit großen, bunten Blüten in allen denkbaren Farben, wachsen oft zwei Meter hoch und bilden eine fast undurchdringliche Barriere. Sie sind die Farbtupfer in einer fasz-inierend-spröden Landschaft mit nur wenigen Wegen, die sich in einem bis zu 200 km breiten Küstenstreifen zwischen Clanwilliam am Fuß der Zederberge und Port Elizabeth am Indischen Ozean erstreckt: beinah 50.000 qkm mit über 7.000 Farn- und Blütenpflanzenarten, von denen mehr als die Hälfte endemisch ist.

 

Über diese Ebene mit dem unendlichen Himmel, der viel höher ist als bei uns in Europa, sind früher die Planwagen der Buren gezogen. Im Park kann man nachempfinden,  wie mühselig der Weg durch diese überwucherte Wildnis für die Siedler war. Noch heute haben die „Vortrekker“  im Geschichtsbild der weißen Südafrikaner einen ebenso wichtigen Rang wie die Unabhängig-keitskämpfer in Amerika. Sie ließen sich von ihren britischen Herren nicht einschüchtern, gingen von der Kapkolonie auf die Reise in ein unbekanntes „menschenleeres“ Land, insgesamt 15.000 Männer, Frauen und Kinder, verbunden durch ihren calvinistischen Glauben, ihren Freiheitswillen und dem Ziel der Gründung einer eigenen souveränen Republik. Das Gebiet von de Hoop durchfuhren die Siedler spät, denn die kriegerischen Xhosa versperrten ihnen den Weg an der Küste entlang. Aber sie mussten sich auf der langen Reise nach Norden und dann wieder zurück an den Indischen Ozean und hoch in Richtung auf das heutige Pretoria durch ein Meer dieser mannshohen Sträucher quälen, wie sie heute noch hier im Reservat wachsen.

 

Auf dem Weg von unserem Haus zur Küste sehen wir Paviane und einige Zebras; Buschböcke, Kudus und immer wieder Schildkröten kreuzen den Weg. Sand weht uns schon auf dem Park-platz entgegen, wo ein einziges anderes Auto steht. Wir klettern auf die erste Düne. Links und rechts von uns türmt sich der Strand auf und fällt dann ab ins dunkelblaue Meer. Bis zu hundert Meter hoch ziehen sich die Dünen von Horizont zu Horizont. Milliarden kleiner Körner sind so weiß wie Schnee; sie blenden die Augen und der Wind bläst sandige Rillen, die wie Schlangen über den Rücken der Hügel laufen. Kein Mensch ist unterwegs; wir sind allein mit dem Ozean und dem Wind, der schon nach wenigen Minuten heftig auffrischt. Er wirbelt Sandfontänen hoch, tobt über das Wasser und zertrümmert die auslaufenden Wellen. Die Temperatur fällt auf vielleicht 15 Grad ab; dunkle Wolken ziehen wie Drohungen auf uns zu. Aber dann bricht die Sonne wieder durch und vertreibt den drohenden Regen, wärmt uns im Schutz der Dünen schnell wieder auf.

 

Dann sehen wir den ersten Wal. Es ist eine Kuh, die mit ihrem Kalb auf der Suche nach Krill und Krebsen die Küste entlang zieht. Wenig später taucht ein weiteres Tier auf, das parallel zum Ufer an uns vorbeischwimmt. Es zieht vielleicht fünfzig Meter entfernt vorbei, wir sehen das verkrustete schiefe Maul, den langen schwarzen Rücken, die gewaltige Flosse. Die riesigen Tiere – sie werden bis zu 18 m lang und wiegen dann 80 Tonnen – ziehen langsam, stetig und selbstvergessen an uns vorüber, eine Urgewalt, die aufgestiegen und viel zu groß ist, um die winzigen Figuren auf dem weißen Hügel zu beachten. Im Englischen heißt die Art „Black right whale“, der „richtige Wal“. Ihren Spitznamen verdanken sie den Walfängern, für die sie die „richtigen“ Opfer waren – langsame Säuger, die am liebsten in Küstennähe schwimmen, reich-lich Öl und Speck liefern und deren Kadaver im Gegensatz zu anderen Walarten an der Meeres-oberfläche treiben. Dementsprechend wurden sie bis an den Rand des Aussterbens bejagt. Allein im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts fielen über 40.000 den Harpunen der Walfänger zum Opfer. Und obwohl sie schon seit 1937 unter Artenschutz stehen, ist ihre Existenz heute alles andere als gesichert.

 

Die Tiere haben einen riesigen Kopf, der ein Viertel ihres Körpers einnimmt. Ihr Oberkiefer wird vom massigen Unterkiefer fast verdeckt, sodass sie irgendwie mürrisch wirken. Charakteristisch sind die vielen Hautwucherungen am Kiefer und über den Augen. Sie erinnern an riesige Muscheln, die sich an den Tieren festgesetzt haben. Aber trotz ihres gedrungenen Äußeren sind die Glattwale sehr aktive Tiere. Häufig springen sie hoch und lassen sich mit lautem Knall aufs Wasser fallen. Dann legen sie sich auf die Seite und scheinen mit ihren Brustflossen zu winken. Oder sie peitschen mit der Brustflosse den Ozean, werfen ihre Schwanzflossen in die Luft und hängen senkrecht im Wasser. Neben ihnen schwimmen die Kälber. Schon bei der Geburt wie-gen sie eine Tonne und sind etwa vier Meter lang. Es ist eine Freude, ihnen zuzuschauen: wie sie sich anschmiegen oder auf dem Bauch der Mutter liegen. Bis zum Strand hoch spürt man eine Bindung, Freude, Fürsorge und Aufmerksamkeit. Es ist eine Beziehung, die den Müttern viel Kraft abverlangt. Die Kälber sind furchtbar hungrig. Sie saugen bis zu 600 Liter Milch am Tag und setzen sie dann binnen vierundzwanzig Stunden in drei Zentimeter Wachstum um.

 

Wir haben Glück an diesem Tag. Weiter draußen auf dem Ozean taucht ein weiterer Wal auf, dann entdecken wir einen vierten, einen fünften, schließlich haben wir binnen zwei Stunden über zwanzig Tiere gezählt. Wir sitzen auf der Düne und sind ganz klein vor der Größe dieser Landschaft und der Tiere. Alles um uns herum ist groß, stark, elementar. Man muss kein sehr spiritueller Mensch sein, um nachzuempfinden, dass Menschen diese Natur noch heute als ein lebendiges Wesen begreifen, mit dem man in Einklang und Respekt leben sollte.

 

Am Abend spielen wir mit den Webervögeln. Wir werfen Brotkrumen in die Luft, die sie elegant im Flug aufpicken. Als einer der Parkwächter auf seiner abendlichen Inspektion an unserem Haus vorbei läuft, laden wir ihn auf ein Glas ein. „Die meisten Touristen kommen doch wegen der Elefanten und Löwen nach Südafrika“, sagt er ein wenig abschätzig. „Sie beachten gar nicht, was da am Straßenrand wächst.“ Er nimmt einen kräftigen Schluck Bier. „8.500 verschiedene Arten haben unsere Leute bisher im Fynbos entdeckt. Mehr als die Hälfte von ihnen ist einzig-artig.“ Er stellt die leere Flasche ein wenig bedauernd zur Seite. Ich biete ihm keine weitere an, denn der nächste Bottle-Store liegt mindestens eine Stunde Autofahrt entfernt:

Als er im Dunkel unter dem milliardenfach glitzernden Sternenhimmel verschwunden ist, trinken wir noch eine Flasche auf die Wale und die Vegetation und die Stille. Hinter uns im Vorgarten grast noch immer das Zebra.

 

 

 

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